Bundesverfassungsgericht - Pressestelle - Pressemitteilung Nr. 72/2009 vom 30. Juni 2009
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat heute entschieden, dass das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Dagegen verstößt das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, als Bundestag und Bundesrat im Rahmen von europäischen Rechtssetzungs- und Vertragsänderungsverfahren keine hinreichenden Beteiligungsrechte eingeräumt wurden. Die Ratifikationsurkunde der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon darf solange nicht hinterlegt werden, wie die von Verfassungs wegen erforderliche gesetzliche Ausgestaltung der parlamentarischen Beteiligungsrechte nicht in Kraft getreten ist. Die Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig, hinsichtlich der Gründe mit 7:1 Stimmen ergangen (zum Sachverhalt vgl. Pressemitteilungen Nr. 2/2009 vom 16. Januar 2009 und Nr. 9/2009 vom 29. Januar 2009). Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde: 1. Zentrale Gesichtspunkte des Urteils im Überblick Das Urteil konzentriert sich auf den Zusammenhang zwischen dem vom Grundgesetz vorgeschriebenen demokratischen System auf Bundesebene und dem erreichten Niveau selbständiger Herrschaftsausübung auf europäischer Ebene. Das Strukturproblem der Europäischen Union wird in den Mittelpunkt der Verfassungsprüfung gestellt: Der Umfang politischer Gestaltungsmacht der Union ist – nicht zuletzt durch den Vertrag von Lissabon – stetig und erheblich gewachsen, so dass inzwischen in einigen Politikbereichen die Europäische Union einem Bundesstaat entsprechend – staatsanalog – ausgestaltet ist. Demgegenüber bleiben die internen Entscheidungs- und Ernennungsverfahren überwiegend völkerrechtsanalog dem Muster einer internationalen Organisation verpflichtet; die Europäische Union ist weiterhin im Wesentlichen nach dem Grundsatz der Staatengleichheit aufgebaut. Solange im Rahmen einer europäischen Bundesstaatsgründung nicht ein einheitliches europäisches Volk als Legitimationssubjekt seinen Mehrheitswillen gleichheitsgerecht politisch wirksam formulieren kann, bleiben die in den Mitgliedstaaten verfassten Völker der Europäischen Union die maßgeblichen Träger der öffentlichen Gewalt, einschließlich der Unionsgewalt. Für den Beitritt zu einem europäischen Bundesstaat wäre in Deutschland eine Verfassungsneuschöpfung notwendig, mit der ein erklärter Verzicht auf die vom Grundgesetz gesicherte souveräne Staatlichkeit einherginge. Ein solcher Akt liegt hier nicht vor. Die Europäische Union stellt weiterhin einen völkerrechtlich begründeten Herrschaftsverband dar, der dauerhaft vom Vertragswillen souverän bleibender Staaten getragen wird. Die primäre Integrationsverantwortung liegt in der Hand der für die Völker handelnden nationalen Verfassungsorgane. Bei wachsenden Kompetenzen und einer weiteren Verselbständigung der Unionsorgane sind Schritt haltende Sicherungen erforderlich, um das tragende Prinzip der begrenzten und von den Mitgliedstaaten kontrollierten Einzelermächtigung zu wahren. Auch sind eigene für die Entfaltung der demokratischen Willensbildung wesentliche Gestaltungsräume der Mitgliedstaaten bei fortschreitender Integration zu erhalten. Insbesondere ist zu gewährleisten, dass die Integrationsverantwortung durch die staatlichen Vertretungsorgane der Völker wahrgenommen werden kann. Durch den Ausbau der Kompetenzen des Europäischen Parlaments kann die Lücke zwischen dem Umfang der Entscheidungsmacht der Unionsorgane und der demokratischen Wirkmacht der Bürger in den Mitgliedstaaten verringert, aber nicht geschlossen werden. Das Europäische Parlament ist weder in seiner Zusammensetzung noch im europäischen Kompetenzgefüge dafür hinreichend gerüstet, repräsentative und zurechenbare Mehrheitsentscheidungen als einheitliche politische Leitentscheidungen zu treffen. Es ist gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen nicht gleichheitsgerecht gewählt und innerhalb des supranationalen Interessenausgleichs zwischen den Staaten nicht zu maßgeblichen politischen Leitentscheidungen berufen. Es kann deshalb auch nicht eine parlamentarische Regierung tragen und sich im Regierungs-Oppositions-Schema parteipolitisch so organisieren, dass eine Richtungsentscheidung europäischer Wähler politisch bestimmend zur Wirkung gelangen könnte. Angesichts dieses strukturellen, im Staatenverbund nicht auflösbaren Demokratiedefizits dürfen weitere Integrationsschritte über den bisherigen Stand hinaus weder die politische Gestaltungsfähigkeit der Staaten noch das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aushöhlen. Die Völker der Mitgliedstaaten sind Träger der verfassungsgebenden Gewalt. Das Grundgesetz erlaubt es den besonderen Organen der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und Rechtsprechung nicht, über die grundlegenden Bestandteile der Verfassung, also über die Verfassungsidentität zu verfügen (Art. 23 Abs. 1 Satz 3, Art. 79 Abs. 3 GG). Die Verfassungsidentität ist unveräußerlicher Bestandteil der demokratischen Selbstbestimmung eines Volkes. Zur Wahrung der Wirksamkeit des Wahlrechts und zur Erhaltung der demokratischen Selbstbestimmung ist es nötig, dass das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeit darüber wacht, dass die Gemeinschafts- oder die Unionsgewalt nicht mit ihren Hoheitsakten die Verfassungsidentität verletzt und nicht ersichtlich die eingeräumten Kompetenzen überschreitet. Die mit dem Vertrag von Lissabon noch einmal verstärkte Übertragung von Zuständigkeiten und die Verselbständigung der Entscheidungsverfahren setzt deshalb eine wirksame Ultra-vires-Kontrolle und eine Identitätskontrolle von Rechtsakten europäischen Ursprungs im Anwendungsbereich der Bundesrepublik Deutschland voraus. 2. Zum Prüfungsmaßstab a) Das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon wird vom Gericht am Maßstab des Wahlrechts gemessen. Das Wahlrecht ist als grundrechtsgleiches Recht mit der Verfassungsbeschwerde rügefähig (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Es konkretisiert den Anspruch auf demokratische Selbstbestimmung, auf freie und gleiche Teilhabe an der in Deutschland ausgeübten Staatsgewalt sowie auf die Einhaltung des Demokratiegebots einschließlich der Achtung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes. Die Prüfung einer Verletzung des Wahlrechts umfasst hier auch Eingriffe in die Grundsätze, die Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung festschreibt. Das Recht der Bürger, in Freiheit und Gleichheit durch Wahlen und Abstimmungen die sie betreffende öffentliche Gewalt personell und sachlich zu bestimmen, ist in der Würde des Menschen verankert und elementarer Bestandteil des Demokratieprinzips. Das Demokratieprinzip ist nicht abwägungsfähig. Eine Änderung des Grundgesetzes, durch welche die in Art. 1 und Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig (Art. 79 Abs. 3 GG). Mit der sogenannten Ewigkeitsgarantie wird die Verfügung über die Identität der freiheitlichen Verfassungsordnung auch dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. Die verfassungsgebende Gewalt hat den Vertretern und Organen des Volkes kein Mandat erteilt, die nach Art. 79 Abs. 3 GG grundlegenden Verfassungsprinzipien zu verändern. b) Zugleich ist die grundgesetzliche Ausgestaltung des Demokratieprinzips offen für das Ziel, Deutschland in eine internationale und europäische Friedensordnung einzufügen. Die deutsche Verfassung ist auf Öffnung der staatlichen Herrschaftsordnung für das friedliche Zusammenwirken der Nationen und die europäische Integration gerichtet. Weder die gleichberechtigte Integration in die Europäische Union noch die Einfügung in friedenserhaltende Systeme wie die Vereinten Nationen führen dabei notwendig zu einer Veränderung im System öffentlicher Gewaltausübung der Bundesrepublik Deutschland. Es handelt sich vielmehr um freiwillige, gegenseitige und gleichberechtigte Bindung, die den Frieden sichert und die politischen Gestaltungsmöglichkeiten durch gemeinsames koordiniertes Handeln stärkt. Der aus Art. 23 Abs. 1 GG und der Präambel folgende Verfassungsauftrag zur Verwirklichung eines vereinten Europas bedeutet für die deutschen Verfassungsorgane, dass die Beteiligung an der europäischen Integration nicht in ihrem politischen Belieben steht. Das Grundgesetz will eine internationale Friedensordnung und eine europäische Integration: Es gilt deshalb nicht nur der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit, sondern auch der Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit. c) Die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union nach Art. 23 Abs. 1 GG steht allerdings unter der Bedingung, dass die souveräne Verfassungsstaatlichkeit auf der Grundlage eines verantwortbaren Integrationsprogramms nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und unter Achtung der verfassungsrechtlichen Identität als Mitgliedstaat gewahrt bleibt und die Bundesrepublik Deutschland ihre Fähigkeit zu selbstverantwortlicher politischer und sozialer Gestaltung der Lebensverhältnisse nicht verliert. Art. 23 Abs. 1 GG und die Präambel sagen nichts aus über den endgültigen Charakter der politischen Verfasstheit Europas. Das Grundgesetz ermächtigt mit Art. 23 GG zur Beteiligung und Entwicklung einer als Staatenverbund konzipierten Europäischen Union. Der Begriff des Verbundes erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben. Die Europäische Union muss sowohl in Art und Umfang als auch in der organisatorischen und verfahrensrechtlichen Ausgestaltung demokratischen Grundsätzen entsprechen (Art. 23 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG). Dies bedeutet zunächst, dass die europäische Integration nicht zur Aushöhlung des demokratischen Herrschaftssystems in Deutschland führen darf. Zwar müssen nicht eine bestimmte Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben. Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf jedoch nicht so verwirklicht werden, dass in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind, und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. Sofern in diesen besonders demokratiebedeutsamen Sachbereichen eine Übertragung von Hoheitsrechten überhaupt erlaubt ist, ist eine enge Auslegung geboten. Dies betrifft insbesondere die Strafrechtspflege, die polizeiliche und militärische Verfügung über das Gewaltmonopol, fiskalische Grundentscheidungen über Einnahmen und Ausgaben, die sozialpolitische Gestaltung von Lebensverhältnissen sowie kulturell bedeutsame Entscheidungen wie Erziehung, Bildung, Medienordnung und Umgang mit Religionsgemeinschaften. d) Das Grundgesetz ermächtigt die deutschen Staatsorgane nicht, Hoheitsrechte derart zu übertragen, dass aus ihrer Ausübung heraus eigenständig weitere Zuständigkeiten begründet werden können. Es untersagt die Übertragung der Kompetenz-Kompetenz. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist deshalb nicht nur ein europarechtlicher Grundsatz (Art. 5 Abs. 1 EGV; Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon ), sondern nimmt – ebenso wie die Pflicht der Europäischen Union, die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten (Art. 6 Abs. 3 EUV; Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV-Lissabon) – mitgliedstaatliche Verfassungsprinzipien auf. Das Integrationsprogramm der Europäischen Union muss deshalb hinreichend bestimmt sein. Sofern die Mitgliedstaaten das Vertragsrecht so ausgestalten, dass unter grundsätzlicher Fortgeltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung eine Veränderung des Vertragsrechts ohne Ratifikationsverfahren herbeigeführt werden kann, obliegt neben der Bundesregierung den gesetzgebenden Körperschaften eine besondere Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung, die in Deutschland innerstaatlich den Anforderungen des Art. 23 Abs. 1 GG genügen muss (Integrationsverantwortung). Das Zustimmungsgesetz zu einem europäischen Änderungsvertrag und die innerstaatliche Begleitgesetzgebung müssen so beschaffen sein, dass die europäische Integration weiter nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erfolgt, ohne dass für die Europäische Union die Möglichkeit besteht, sich der Kompetenz-Kompetenz zu bemächtigen oder die integrationsfeste Verfassungsidentität der Mitgliedstaaten, hier des Grundgesetzes, zu verletzen. Für Grenzfälle des noch verfassungsrechtlich Zulässigen muss der deutsche Gesetzgeber mit seinen die Zustimmung begleitenden Gesetzen Vorkehrungen dafür treffen, dass die Integrationsverantwortung der Gesetzgebungsorgane sich hinreichend entfalten kann. e) Das Bundesverfassungsgericht prüft, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips (Art. 5 Abs. 2 EGV; Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 EUV-Lissabon) in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten (Ultra-vires-Kontrolle). Darüber hinaus prüft das Bundesverfassungsgericht, ob der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG gewahrt ist (Identitätskontrolle). Die Ausübung dieser verfassungsrechtlich geforderten Prüfungskompetenzen wahrt die von Art. 4 Abs. 2 Satz 1 EUV-Lissabon anerkannten grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen souveräner Mitgliedstaaten auch bei fortschreitender Integration. Sie folgt bei der konkreten Ausübung dem Grundsatz der Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes. 3. Zur Subsumtion a) Gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon bestehen keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. aa) Die Europäische Union erreicht auch bei Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon noch keine Ausgestaltung, die staatsanalog ist und deshalb dem Legitimationsniveau einer staatlich verfassten Demokratie entsprechen müsste. Sie ist kein Bundesstaat, sondern bleibt ein Verbund souveräner Staaten unter Geltung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Das Europäische Parlament ist kein Repräsentationsorgan eines souveränen europäischen Volkes, sondern ein supranationales Vertretungsorgan der Völker der Mitgliedstaaten, so dass der allen europäischen Staaten gemeinsame Grundsatz der Wahlgleichheit auf das Europäische Parlament keine Anwendung findet. Andere Regelungen des Vertrags von Lissabon, wie die doppelt-qualifizierte Mehrheit im Rat (Art. 16 Abs. 4 EUV-Lissabon, Art. 238 Abs. 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ), die partizipativen, assoziativen und direkten Demokratieelemente (Art. 11 EUV-Lissabon) sowie die institutionelle Anerkennung der nationalen Parlamente (Art. 12 EUV-Lissabon) können das – gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen – bestehende Defizit der europäischen Hoheitsgewalt nicht aufwiegen, das Legitimationsniveau des Staatenverbundes aber gleichwohl erhöhen. bb) Die Bundesrepublik Deutschland bleibt bei Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ein souveräner Staat. Insbesondere bleibt die deutsche Staatsgewalt in ihrer Substanz geschützt. Die Verteilung und Abgrenzung der Zuständigkeiten der Europäischen Union von denen der Mitgliedstaaten erfolgt nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und weiteren materiell-rechtlichen Schutzmechanismen, insbesondere Zuständigkeitsausübungsregeln. Die so kontrollierte und verantwortbare Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union wird durch einzelne Vorschriften des Vertrags von Lissabon nicht in Frage gestellt. Dies gilt zunächst für das vereinfachte Änderungsverfahren (vgl. insbesondere Art. 48 Abs. 6 EUV-Lissabon). Die „Zustimmung“ der Bundesrepublik Deutschland im vereinfachten Änderungsverfahren setzt ein Gesetz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG als lex specialis zu Art. 59 Abs. 2 GG voraus. cc) Soweit die allgemeine Brückenklausel des Art. 48 Abs. 7 EUV-Lissabon den Übergang vom Einstimmigkeitsprinzip zum qualifizierten Mehrheitsprinzip in der Beschlussfassung des Rates oder den Übergang vom besonderen zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ermöglicht, handelt es sich ebenfalls um eine nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG zu beurteilende Vertragsänderung. Das Ablehnungsrecht der nationalen Parlamente (Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissabon) ist kein ausreichendes Äquivalent zum Ratifikationsvorbehalt. Der deutsche Regierungsvertreter im Europäischen Rat darf einer Vertragsänderung durch Anwendung der allgemeinen Brückenklausel deshalb nur zustimmen, wenn der Bundestag und der Bundesrat innerhalb einer noch auszugestaltenden Frist, die an die Zwecksetzung des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissabon angelehnt ist, ein Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG erlassen haben. Dies gilt ebenso für den Fall, dass von der speziellen Brückenklausel nach Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV Gebrauch gemacht wird. dd) Ein Gesetz im Sinne des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht erforderlich, soweit spezielle Brückenklauseln sich auf Sachbereiche beschränken, die durch den Vertrag von Lissabon bereits hinreichend bestimmt sind, und kein Ablehnungsrecht der nationalen Parlamente vorsehen. Auch in diesen Fällen obliegt es allerdings dem Bundestag und, soweit die Gesetzgebungsbefugnisse der Länder betroffen sind, dem Bundesrat, die Integrationsverantwortung in anderer geeigneter Weise wahrzunehmen. Das Vetorecht im Rat darf auch bei sachlich in den Verträgen bereits bestimmten Gegenständen nicht ohne Beteiligung der zuständigen Gesetzgebungsorgane aufgegeben werden. Der deutsche Regierungsvertreter im Europäischen Rat oder Rat darf deshalb einer Änderung des Primärrechts durch Anwendung einer der speziellen Brückenklauseln nur dann für die Bundesrepublik Deutschland zustimmen, wenn der Deutsche Bundestag und, soweit die Regelungen über die Gesetzgebung dies erfordern, der Bundesrat innerhalb einer noch auszugestaltenden Frist, die an die Zwecksetzung des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV-Lissabon angelehnt ist, ihre Zustimmung zu diesem Beschluss erteilt haben. ee) Auch die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV kann in einer Weise ausgelegt werden, dass das in den Vorschriften in Aussicht genommene Integrationsprogramm durch die deutschen Gesetzgebungsorgane noch vorhersehbar und bestimmbar ist. In Anbetracht der Unbestimmtheit möglicher Anwendungsfälle setzt die Inanspruchnahme der Flexibilitätsklausel verfassungsrechtlich die Ratifikation durch den Bundestag und den Bundesrat auf der Grundlage von Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG voraus. ff) Die verfassungsrechtlich gebotene Kontrollkompetenz des Bundesverfassungsgerichts ist durch die der Schlussakte zum Vertrag von Lissabon beigefügte Erklärung Nr. 17 zum Vorrang nicht berührt. Der Grund und die Grenze für die Geltung des Rechts der Europäischen Union in der Bundesrepublik Deutschland ist der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl, der nur im Rahmen der geltenden Verfassungsordnung erteilt werden kann. Es ist insoweit nicht von Bedeutung, ob der Anwendungsvorrang des Unionsrechts, den das Bundesverfassungsgericht bereits für das Gemeinschaftsrecht im Grundsatz anerkannt hat, in den Verträgen selbst oder in der der Schlussakte zum Vertrag von Lissabon beigefügten Erklärung Nr. 17 vorgesehen ist. gg) Die durch den Vertrag von Lissabon neu begründeten oder vertieften Zuständigkeiten in den Bereichen der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen und Zivilsachen, der Außenwirtschaftsbeziehungen, der Gemeinsamen Verteidigung sowie in sozialen Belangen können im Sinne einer zweckgerechten Auslegung des Vertrages und müssen zur Vermeidung drohender Verfassungswidrigkeit von den Organen der Europäischen Union in einer Weise ausgeübt werden, dass auf mitgliedstaatlicher Ebene sowohl im Umfang als auch in der Substanz noch Aufgaben von hinreichendem Gewicht bestehen, die rechtlich und praktisch Voraussetzung für eine lebendige Demokratie sind. Dabei ist insbesondere Folgendes zu beachten: – Wegen der besonders empfindlichen Berührung der demokratischen Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen sind die entsprechenden vertraglichen Kompetenzgrundlagen strikt – keinesfalls extensiv – auszulegen und ihre Nutzung bedarf besonderer Rechtfertigung. – Die Nutzung der dynamischen Blankettermächtigung nach Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV, „je nach Entwicklung der Kriminalität“ eine Ausdehnung des Katalogs besonders schwerer grenzüberschreitender Straftaten vorzunehmen, entspricht in der Sache einer Erweiterung der Zuständigkeiten der Europäischen Union und unterliegt deshalb dem Gesetzesvorbehalt des Art. 23 Abs. 1 Satz 2 GG. – Im Bereich der Justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen sind zusätzlich besondere Anforderungen an die Regelungen zu stellen, die einem Mitgliedstaat spezielle Rechte im Gesetzgebungsverfahren einräumen (Art. 82 Abs. 3, Art. 83 Abs. 3 AEUV: sogenanntes Notbremseverfahren). Das notwendige Maß an demokratischer Legitimation über die mitgliedstaatlichen Parlamente lässt sich aus dem Blickwinkel des deutschen Verfassungsrechts nur dadurch gewährleisten, dass der deutsche Vertreter im Rat die in Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 AEUV genannten mitgliedstaatlichen Rechte nur nach Weisung des Bundestages, und soweit die Regelungen über die Gesetzgebung dies erfordern, des Bundesrates ausübt. – Auch bei Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon besteht der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Streitkräfte fort. Der Vertrag von Lissabon überträgt der Europäischen Union keine Zuständigkeit, auf die Streitkräfte der Mitgliedstaaten ohne Zustimmung des jeweils betroffenen Mitgliedstaats oder seines Parlaments zurückzugreifen. Er beschränkt auch die sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten des Deutschen Bundestages nicht in einem solchen Umfang, dass das Sozialstaatsprinzip (Art. 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG) in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise beeinträchtigt und insoweit notwendige demokratische Entscheidungsspielräume unzulässig vermindert wären. b) Gegen das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 23, 45 und 93) bestehen ebenfalls keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken. Eine Verletzung demokratischer Grundsätze nach Art. 79 Abs. 3 GG erfolgt weder durch Art. 23 Abs. 1a GG n.F., der das Recht zur Erhebung der Subsidiaritätsklage als Minderheitenrecht ausgestaltet und das Quorum auf ein Viertel der Mitglieder festlegt, noch durch Art. 45 Satz 3 GG n.F. c) Dagegen verstößt das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestages und des Bundesrates in Angelegenheiten der Europäischen Union insoweit gegen Art. 38 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG, als Beteiligungsrechte des Deutschen Bundestages und des Bundesrates nicht in dem von Verfassungs wegen erforderlichen Umfang ausgestaltet worden sind. Gestalten die Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung das europäische Vertragsrecht in einer Art und Weise aus, dass eine Veränderung des Vertragsrechts bereits ohne Ratifikationsverfahren allein oder maßgeblich durch die Organe der Europäischen Union – wenngleich unter dem Einstimmigkeitserfordernis im Rat – herbeigeführt werden kann, obliegt den nationalen Verfassungsorganen eine besondere Verantwortung im Rahmen der Mitwirkung. Diese Integrationsverantwortung muss in Deutschland innerstaatlich den verfassungsrechtlichen Anforderungen insbesondere des Art. 23 Abs. 1 GG genügen.